Armut

Armut ist weit mehr als ein Mangel an finanziellen Ressourcen. Knappe monetäre Ressourcen sind der Ausgangspunkt für Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und eine eingeschränkte Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen. Wir konzentrieren uns auf die Beschreibung der Einkommensarmut. Man kann aber davon ausgehen, dass damit für viele der Betroffenen eine angespannte Lebenssituation im psycho-sozialen Bereich verbunden ist.

Die rechnerische Armutsgrenze setzen wir bei einem gewichteten monatlichen Einkommen (vor Steuern) von weniger als 1’750 Franken pro Person fest.

Die Armutsgefährdung betrifft weite Bevölkerungskreise

2002 ist nach dieser Definition knapp jede 20. Person im Kanton Solothurn einkommensarm. Im Vergleich zur ganzen Schweiz ist dieser Anteil ein wenig tiefer (siehe Tabelle). Er verdoppelt sich aber, wenn die Armutsgefährdung (Glossar) mit einbezogen wird: weitere 7.6% der Wohnbevölkerung leben in Haushalten knapp über der Armutsgrenze.

Diese Momentaufnahme aus dem Jahr 2002 beantwortet nicht, ob Einkommensarmut für Betroffene ein dauerhafter Zustand oder eher eine vorübergehende, eventuell wiederholte Erfahrung ist. Wie bereits erwähnt reichen die finanziellen Ressourcen für rund 60% der Bevölkerung bei einem Einkommensausfall nur gerade für eine Überbrückung von maximal sechs Monaten. Diese Angaben lassen vermuten, dass es häufig Neuzugänge in als Armut definierte Situationen, aber auch Abgänge daraus gibt [vgl. Tillmann & Budowski 2004].

Die Sozialhilfe wird häufiger in Anspruch genommen

2004 erreicht die Zahl der Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt werden, einen Höchststand. Die Fallzahlen steigen gegenüber dem Vorjahr um 18%, die Kosten um 38% an (siehe Abbildung). Es kann geschätzt werden, dass 3.1% der Wohnbevölkerung finanzielle Hilfen erhalten.

Ein Vergleich der Armutsquote mit der Sozialhilfequote macht deutlich, dass Armut nicht in jedem Fall den Gang zur Sozialhilfe nach sich zieht. Auf der Seite der Betroffenen mögen Schamgefühle oder der Wunsch nach Unabhängigkeit Gründe sein, diese Hilfe nicht zu beanspruchen. Man kann also davon ausgehen, dass häufig informelle Netze (Partnerschaft, Familie, Verwandtschaft oder Freunde und Freundinnen) vorerst für die finanzielle Absicherung aufkommen [am Beispiel von ausgesteuerten Personen; vgl. Aeppli 2000, 98].

Die Sozialhilfe kann auch selber eine Verlagerung zur informellen Hilfe begünstigen, zum Beispiel durch institutionelle Hürden. Neben der Umsetzung der Verwandtenunterstützungspflicht und der Rückerstattungspflicht spielt bei dieser Verlagerung auch die Organisation der Sozialhilfe eine wichtige Rolle. Es gibt nicht genügend Daten, um die Frage zu beantworten, wie weit die unterschiedlich organisierten Vollzugsorgane den Anspruch auf Sozialhilfe aktiv regulieren, zum Beispiel über einen restriktiven Umgang mit Anträgen [Interview mit Ueli Mäder, Sozialbericht, Kapitel Armut]. Klar belegt ist aber im Kanton Solothurn der unterschiedliche Professionalisierungsgrad in der Sozialhilfe. Neben einer allenfalls gesteuerten Nichtbeanspruchung stellt sich also auch die Frage nach der effektiven Leistungsfähigkeit. Diese Frage ist umso wichtiger, weil immer mehr Personen Sozialhilfe beanspruchen und diese eine wichtige Funktion für die Wiedereingliederung übernimmt.

Die Zahl der Working Poor ist überdurchschnittlich hoch

Neben den klassischen Gründen für Sozialhilfe (z.B. Langzeitarbeitslosigkeit, Scheidung) ist in den letzten Jahren ein Phänomen zurückgekehrt, das in den reichen westlichen Industriestaaten gebannt schien: Armut trotz Erwerbstätigkeit. Die durch Erwerbsarbeit erwirtschafteten finanziellen Mittel reichen nicht für den Lebensunterhalt aus. Mittlerweile trifft diese Armutsform auf eine grosse Gruppe zu: 2002 sind im Espace Mittelland (Glossar) 8.1% der Erwerbstätigen (Schweiz: 6.5%) davon betroffen. Die gesamtschweizerischen Daten zeigen, dass vor allem Frauen und auch ausländische Personen zu den „Working Poor“ gehören. Besondere Risiken für diese Form der Armut sind das Ausbildungsniveau, die Branchenzugehörigkeit sowie befristete und Teilzeitarbeitsverhältnisse.

Die Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen – etwa als befristete, temporäre Arbeit, Arbeit auf Abruf, Arbeit mit einem umsatzabhängigen Lohn oder unfreiwillige Teilzeitarbeit – konfrontiert die Sozialhilfe vermehrt mit dieser spezifischen Armutsgruppe. Im Jahr 2000 betrug sie im Kanton Solothurn 16% der Antragsteller/innen im erwerbsfähigen Alter.

Zugleich ist ein anderes Problem damit verbunden. Das Ziel für diese Personengruppe, die ja im Erwerbsleben steht, kann nicht berufliche Reintegration bedeuten [vgl. Baur 2003, VIII]. Die Sozialhilfe übernimmt hier – wie auch bei Eltern mit Betreuungspflichten, bei Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und bei arbeitslosen Personen vor dem Rentenalter – die Funktion einer dauerhaften Existenzsicherung, die nicht durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit abgelöst werden kann. Diese neue Form der Unterstützung stellt eine gesellschaftspolitische Herausforderung dar (Stichwort «garantiertes Grundeinkommen»).

Verwendete Literatur:
Aeppli, Daniel C. (2000). Die Ausgesteuerten. Situationsbericht – Dritte Studie.
Bern: Haupt.

Baur, Rita (2003). Erschwerte soziale und berufliche Integration: Hintergründe und Massnahmen. Forschungsbericht Nr. 26/03.
Bern: Bundesamt für Sozialversicherung.

Tillmann, Robin; Budowski, Monica (2004). La pauvreté en Suisse. In: Zimmermann, Erwin; Tillmann, Robin (Hg.). Vivre en Suisse 1999-2000. Leben in der Schweiz 1999-2000.
Bern: Lang, 30-53.

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